Es gibt bei Psychologen und Psychiatern verschiedene Ansichten darüber, was der Ursprung des Wunsches ist, sich selbst Schmerzen zuzufügen. Bei den meisten ist die Ansicht in ihrer Schule verwurzelt. Ich habe hier mehr über psychologische Schulen geschrieben. Für mich hat sich nach vielen Jahren Beobachtung, Zuhören, Lesen von Autobiografien und Fachtexten – auch aus anderen Wissenschaften – diese Theorie am besten bewährt.

Bei den jungen Frauen, die sich Schmerzen antun, ist wohl auslösend, dass in der Pubertät die weiblichen Geschlechtshormone in ihrem Körper in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen. Das bewirkt, dass Schmerzen nicht nur einfach als schmerzhaft empfunden werden, wie das in anderen Lebensabschnitten und auch bei Männern der Fall ist, sondern dass sie im Gegenteil als angenehm erfahren werden können.

Das scheint manchen geradezu verrückt. Sie fragen sich schon deshalb, ob sie vielleicht verrückt sind, weil ihnen selbst klar ist, dass ein angenehmes Empfinden von Schmerzen nicht gerade „normal“ ist. Sie kennen oft keinen anderen Menschen, der es so erlebt wie sie und erinnern sich noch, wie schmerzhaft sie in ihrer Kindheit waren. Doch: es ist keineswegs so verrückt. Es gibt auch andere Situationen, wo Schmerzen anders erlebt werden. Eine ganz besonders dramatische und besondere Situation im Leben einer Frau ist, wenn sie ein Kind gebärt. Wer diesem Vorgang einmal zusehen durfte, wird Zeuge eines verblüffenden Widerspruches: er sieht einen Menschen in massivsten Schmerzen – denn das sind die Wehen ganz erkennbar, der dennoch zutiefst glücklich ist.

Ich selbst durfte in meiner Ausbildung im Krankenhaus diesem Phänomen mit einer grossen Faszination mehr als einmal zusehen und kann versichern: es ist niemals anders. Immer windet sich die Mutter in diesen gewaltigen Schmerzen, die schon die Bibel in ihrer Schöpfungsgeschichte exklusiv der Frau zuweist: „du sollst unter Schmerzen gebären“. Und immer ist doch zugleich dieser Schmerz auch mit dem grössten Glück verbunden. Männer machen diese Erfahrung so nicht. Und auch die andere, alltäglichere Erfahrung der Regelschmerzen machen sie nicht, die Frauen von der Pubertät bis zu den Wechseljahren im wahrsten Sinne des Wortes regelmässig durchleiden. Diese Schmerzen können sie mit einer relativen Gelassenheit ertragen, die bewundernswert ist.

Beide Situationen sind Situationen, in denen in erhöhtem Umfang weibliche Geschlechtshormone ausgeschüttet werden: während der Regelschmerzen und noch viel mehr während der Schwangerschaft und zuletzt ihrem finalen Höhepunkt: der Geburt. Und auch die Pubertät ist mit einem erhöhten Level von Geschlechtshormonen verbunden. Jungs sind in ihrem Gehabe in dieser Zeit betont männlich, Mädchen betont weiblich. Keine Erziehung kann das ändern, weil es von den Hormonen so programmiert ist.

Und wenn die Ausschüttung weiblicher Sexualhormone in Regel und Schwangerschaft einher geht mit der Ausschüttung von Neutransmittern – also Gehirnbotenstoffen, die gegen Schmerz unempfindlicher machen, warum sollte das nicht auch in der Pubertät der Fall sein? Pubertierende Mädchen sind dann unempfindlicher gegen Schmerz, wie ihre gebärenden Mütter, und haben jene Anlage in sich, Schmerzen als beruhigend und beglückend zu empfinden. Sie fügen sich auf vielfältige Art und Weise körperliche Schmerzen zu, stimulieren die Ausschüttung von beglückenden Neurotransmittern und finden darin einen Ausgleich für die vielfältigen seelischen Schmerzen, denen sie ausgesetzt sind. Und von denen gibt es in der Pubertät wahrlich mehr als in jeder anderen Lebensepoche, ist das doch die Zeit, in der man mit den Mitteln der Kindheit vor erwachsene Herausforderungen gestellt ist,

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