Wenn wir erkannt haben, dass Selbstverletzungsverhalten im Grunde eine Sucht ist, weil es durch ein Verlangen nach opiumähnlichen Stoffen im Körper ausgelöst wird, können wir auch mal darauf schauen, wie man Drogenabhängige therapiert. Es lohnt sich, denn das ist wirklich eine ganz andere Welt!

Als die Drogen in grossem Umfang in den 1960er und 70er Jahren nach Europa kamen, versuchten die Regierungen und die Völker zunächst, sie zu bekämpfen und auszurotten. Man dachte: man fängt alle Drogenhändler ein und sperrt sie ins Gefängnis. Und man nimmt allen Abhängigen die Drogen weg. Dann gibt es keine Drogen mehr und alles wird wie (scheinbar) vorher. In Wirklichkeit war es nie so gewesen, denn Drogenabhängigkeiten hatte es schon im 19. Jahrhundert gegeben. Nur waren die Modedrogen damals nicht dieselben (vor allem reines Opium aus der Mohnpflanze). Wie sich das damals gedacht wurde und wie „gut“ das wirkte, zeigt und Heutigen noch der klassische Film „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ von „Christiane F.“ Christiane wird darin von Heroin, der tödlichsten aller Drogen, abhängig, und versucht am Ende des Films einen harten Entzug durch Wegnehmen der Drogen.

Die Strategie scheiterte aber. Und Christiane F. zeigt auch das. Zwar ist sie nach dem Entzug physisch frei von der Droge. Aber das Verlangen ist nicht weg. Sie sucht die Droge wieder und findet sie auch wieder. Sie ist nicht erfunden, es gab und gibt sie wirklich. Sie lebt heute noch in Berlin und ist immer noch drogenabhängig. Sie hat all das viele Geld aus den Büchern und Filmen nur in Drogen „investiert“. Ich bin ihr begegnet und habe selbst gesehen, wie sie auch heute noch in Cliquen von Süchtigen ihre Zeit verbringt. Genau so wie Christiane F. mit ihrem Entzug scheiterte, scheiterte auch die Drogenpolitik des Drogenbekämpfens.

Der Film bahnt einer grossen gesellschaftlichen Diskussion den Weg, an deren Ende die Einrichtung einer sanfteren und realistischeren Drogenpolitik und -therapie stand. Sie nennt sich akzeptierende Drogenarbeit und basiert auf der Idee, dass der einzelne Abhängige selbst zwischen verschiedenen Therapieformen entscheiden kann. Er kann sich dafür entscheiden, mit Willenskraft zu hundert Prozent gegen die Droge anzukämpfen und alles drogenähnliche aus seinem Leben zu verbannen, nicht zu rauchen, keinen Alkohol zu trinken und so weiter.

Er kann sich aber auch dafür entscheiden, auf einem sanfteren Weg von den Drogen wegzukommen, indem er die härteren Drogen gegen weniger schädliche austauscht. Statt Heroin kann man z.B. in Beratungsstellen ärztlich verordnet Methadon erhalten. Das ist auch nicht unschädlich und auch eine Droge. Aber doch deutlich weniger als Heroin, das spätestens in wenigen Jahren nach dem Beginn des Konsums zum Tode führt.

Oder er entscheidet sich dafür, seinen Drogenkonsum fortzusetzen. Auch dann wird er aber nicht verfolgt und bekämpft, sondern erhält als Unterstützung zumindest hygienisch einwandfreie Spritzen, damit er sich die nicht mit anderen teilen muss und womöglich Infektionskrankheiten einfängt und weiter verbreitet. Die verbrauchten Spritzen kann er ordentlich entsorgen und die Gesellschaft der Stadt profitiert davon, dass nicht überall gefährliche spitze Nadeln herum liegen.

Das ist nur eine grobe Übersicht über all das, was heute in entwickelten Ländern Drogenarbeit ausmacht: eine Vielfalt von verschiedenen Konzepten, die von dem Respekt vor der Persönlichkeit des Drogenabhängigen getragen sind und ihm die Entscheidungsgewalt über sein Leben geben. Und das, obwohl Drogen gefährlich bis extrem gefährlich sind und in wenigen Monaten nach Beginn des Konsums zum Tode führen können. Und die Gesellschaft massiv mit schädigen, wenn man nur daran denkt, wie Drogenabhängige ihre Spritzen liegen lassen oder den Verkehr gefährden können.

Wenn man es so miteinander vergleicht: erscheint es nicht sehr seltsam, dass man jungen Frauen, die sich lediglich etwas hässlicher machen, aber nichts wirklich riskieren und schon gar nicht ihre Mitmenschen schädigen, so wenig respektiert? Dass man sie als krank diagnostiziert, zur Anpassung an gesellschaftliche Normen zwingt und in jeder Form ihren Willen und ihre Selbstbestimmung verletzt?

Ich finde das keineswegs natürlich.

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